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Depression im Sommer – wenn die Sonne den Schatten nicht vertreibt

Depression im Sommer – wenn die Sonne den Schatten nicht vertreibt

Im Sommer scheint alles leichter: Die Tage sind länger, die Temperatur steigt, und aus unserer gesellschaftlichen Erwartung heraus „sollten“ wir jetzt unbeschwert sein – am Strand liegen, Grillabende genießen und in guter Stimmung durch die Stadt flanieren. Doch eine wachsende Zahl von Menschen empfindet genau das Gegenteil: Trotz der sonnigen Monate bleibt die Stimmung gedrückt, Antriebslosigkeit und innere Leere kehren nicht in den Schatten. In meiner Privatpraxis Redemoment begegne ich Patient*innen, die über genau dieses Phänomen klagen: Depression im Hochsommer. Im Folgenden möchte ich auf die Hintergründe eingehen, Betroffenen Mut machen und zugleich erläutern, wie eine psychotherapeutische Begleitung auf dem Weg aus dem Sommerdunkel aussehen kann.

1. Warum bleibt die Stimmung im Sommer bedrückt?

1.1 Biologische und neurophysiologische Aspekte

Obwohl die Sommermonate meist mit positiven Assoziationen belegt sind, verlaufen bei depressiven Erkrankungen die neurobiologischen Vorgänge nicht automatisch umgekehrt zu jenen im Winter. Ein wesentlicher Faktor ist die individuelle Vulnerabilität im Serotonin- und Cortisolstoffwechsel. Hohe Außentemperaturen führen bei empfindsamen Menschen zu einer verstärkten Ausschüttung von Cortisol, was längerfristig zu einem Stresszustand und damit zu depressiven Symptomen beitragen kann12. Weiterhin haben neuere Untersuchungen nahegelegt, dass sehr hohe Temperaturen und Hitzeperioden mit einer erhöhten Sterblichkeit durch psychische Krisen einhergehen – ein Hinweis darauf, dass Hitze selbst einen depressiven Verstärkereffekt haben kann3.

1.2 Psychosoziale Faktoren: Druck zur „guten Laune“

Eine zentrale Ursache für das Empfinden „Ich müsste mich besser fühlen, nur weil Sommer ist“ ist der soziale Druck. Aktuelle Umfragen zeigen, dass fast die Hälfte aller Befragten (48 %) im Sommer negative psychische Symptome berichtet, obwohl sie es anders erwarten würden4. Die ständige Konfrontation mit heiteren Urlaubsfotos von Freunden und Bekannten in den sozialen Medien verstärkt das Gefühl, ausgegrenzt oder unzulänglich zu sein, wenn man selbst keine beschwingten Erlebnisse teilt5. Dieses Spannungsfeld zwischen persönlicher Wirklichkeit und gesellschaftlichem Ideal erzeugt häufig Schuld- und Schamgefühle.

1.3 Persönliche und biografische Einflüsse

Für manche Menschen sind die Sommermonate emotional durch belastende Erinnerungen geprägt: Ein Verlust, eine gescheiterte Beziehung oder familiäre Konflikte, die sich aus der intensiven Aufmerksamkeit und den gemeinsamen Aktivitäten im Sommer ergeben. Solche biografischen Assoziationen können eine saisonunabhängige Depression befeuern, sodass der warme Sonnenschein die innere Dunkelheit nicht vertreibt.

2. Typische Anzeichen – wenn Selbstzweifel nicht schwinden

Wer den Eindruck hat, dass die gute Sommerstimmung an ihm vorbeizieht, fühlt sich oft verunsichert: Woran erkenne ich, ob es mehr ist als nur ein vorübergehendes Tief? Wesentliche Symptome einer depressionstypischen Grundstimmung, die auch im Sommer auftreten, sind:

  • Anhaltende Niedergeschlagenheit, selbst wenn äußere Bedingungen (Sonne, Freizeit) eigentlich Anlass zur Freude geben sollten.
  • Verlust von Interesse oder Lust an Aktivitäten, die früher einmal Freude gemacht haben, etwa Gartenarbeit, Treffen mit Freunden oder Ausflüge.
  • Schlechter Schlaf: Einerseits gleicht die hohe Temperatur oft einem Störfaktor, andererseits besteht eine anhaltende innere Unruhe, die nicht zur Ruhe kommen lässt.
  • Konzentrations­störungen, Gefühl der Überforderung, wenn einfache Aufgaben plötzlich schwerfallen.
  • Körperliche Begleitsymptome: Chronische Müdigkeit, Kopf­schmerzen oder Appetitmangel – auch ohne eine Erkrankung, die körperlich erklärbar wäre.

Eine aktuelle Studie der CDC (August 2021 – August 2023) zeigt, dass 13,1 % aller Erwachsenen mindestens eine depressive Episode innerhalb von zwei Wochen berichteten, unabhängig von der Jahreszeit6. Dies belegt, dass Depression eine Erkrankung ist, die sich nicht einfach aus den Sommer­monaten „herauslüpft“, sondern kontinuierlich bestehen kann.

3. Die psychischen Konsequenzen des Kluftgefühls

3.1 Schuld- und Schamgefühle

In einer Welt, in der Social-Media-Feeds von glücklichen Urlaubsbildern überlaufen, entstehen Schuldgefühle: „Warum genieße ich nicht, was andere genießen?“ Dieses „Versagen“ erzeugt zusätzliche Anspannung, die die depressive Grundstimmung weiter festigt und zu einer sich selbst verstärkenden Spirale führt7.

3.2 Rückzug und soziale Isolation

Ironischerweise zieht sich der Betroffene oft zurück, um den Erwartungsdruck zu vermeiden – doch dies verstärkt das Gefühl von Einsamkeit. Studien belegen, dass soziale Unterstützung einer der stärksten protektiven Faktoren gegen Depression ist (Holt-Lunstad et al., 2015)8. Wenn aber gerade im Sommer die sozialen Verpflichtungen „spaßig“ sein sollen und man selbst sich nicht in der Lage dazu fühlt, entsteht ein tiefer Riss zur Umwelt.

3.3 Leistungsdruck und Selbstwertprobleme

Viele glauben, der Sommer biete Raum für Freizeit und Entspannung – tatsächlich spielt aber die Erwartung, in dieser Zeit besonders leistungsfähig, vital und attraktiv zu sein, eine Rolle. Wer darunter mental zusammenbricht, erlebt ein starkes Selbstwertdefizit: Die Vorstellung „Eigentlich sollte ich jetzt meine Energie zurückgewinnen“ kollidiert mit dem Erleben: „Ich habe nicht genug Kraft, um den Tag zu meistern.“ Dieser Konflikt kann zu einer tieferen depressiven Verstärkung führen und im schlimmsten Fall Suizidgedanken triggern. Deshalb ist es so wichtig, depressive Signale frühzeitig ernst zu nehmen – auch dann, wenn das Wetter schön ist.

4. Psychotherapeutische Hilfe: Wege aus der Sommerdepression

4.1 Psychoedukation – Verstehen, was im Inneren passiert

Ein erster, essenzieller Schritt ist die Aufklärung: Depression ist keine Frage der Jahreszeit, sondern eine biologische und psychische Erkrankung. Betroffene zu informieren, dass ihre Symptome valide sind und nicht auf persönlichem Versagen beruhen, nimmt Schuldgefühle. In der Praxis Redemoment wird zu Beginn abgeklärt, wie ausgeprägt die Symptomatik ist (z. B. mittels Beck-Depressions-Inventar, BDI-II). Dadurch wird eine individuelle Basis für den Therapieplan geschaffen.

4.2 Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) – Gedanken und Gefühle neu gestalten

Die KVT zählt zu den am besten belegten Verfahren bei Depression (Hofmann et al., 2012)9. Im Sommer fokussieren wir uns auf:

  1. Erkennen und Hinterfragen schädlicher Glaubenssätze („Wenn ich mich im Sommer nicht gut fühle, bin ich wertlos“).
  2. Realitätsorientierte Neubewertung: Gemeinsam analysieren wir, welche Erwartungen realistisch sind und welche sie überfordern.
  3. Aktivitäts­planung: Ein behutsamer Aufbau positiver Erlebnisse, ohne den Zwang, „perfekt“ den Sommer zu genießen. Hier geht es nicht um hohe Leistungsziele, sondern um kleine, erfolgreiche Schritte – etwa ein kurzer Spaziergang im Schatten der Hafenanlagen der Hafencity, anstatt einen abendlichen Sonnenaufgang zu verpassen.

4.3 Achtsamkeit und Entspannungsverfahren

Achtsamkeitsbasierte Interventionen (MBSR) haben in Studien gezeigt, dass sie depressive Symptome lindern können (Fjorback et al., 2011)10. Im Sommer sollte das Augenmerk auf achtsamer Körperwahrnehmung liegen:

  • Geleitete Entspannungsübungen können helfen, die körperliche Unruhe zu reduzieren.
  • Atemübungen im Freien, um eine achtsame Verbindung zur Umgebung herzustellen – etwa den Wind an der Elbe spüren, ohne das Gedankenkreisen zu verstärken.

4.4 Soziale Vernetzung und Selbsthilfe

Gemeinsam mit Betroffenen erarbeite ich Strategien, wie sie ihre sozialen Kontakte gezielt aufrechterhalten können, ohne in einen Freizeit-„Pflichttermin“-Modus zu geraten. Studien zeigen, dass soziale Anbindung einen direkten Einfluss auf die Kurskorrektur depressiver Symptome hat (Holt-Lunstad et al., 2015). In Hamburg etwa gibt es zahlreiche Freizeitgruppen (Yogakurse, Lauftreffs), die keine Leistungs­orientierung haben, sondern neben dem Sport den Gemeinschaftsaspekt betonen.

4.5 Schwerpunkt „Selbstmitgefühl“

Viele meiner Patient*innen leiden unter einem strengen inneren Kritiker, der im Sommer besonders laut wird: „Ich hätte doch die Energie haben müssen, rauszugehen.“ Hier liegt ein Ansatz über Übungen zum Selbstmitgefühl (Neff, 2003): Statt sich selbst zu verurteilen, lernt man, Mitgefühl wie für einen Freund oder eine Freundin zu empfinden.

5. Was Sie jetzt tun können

Falls Sie bei sich selbst oder bei nahestehenden Menschen eine anhaltende Niedergeschlagenheit verspüren – auch wenn die Sonne scheint –, bedenken Sie Folgendes:

  • Erkennen Sie, dass Ihr Erleben real ist. Sie müssen sich nicht schuldig fühlen, weil Sie sich nicht automatisch besser fühlen, nur weil Sommer ist. Depression ist eine Erkrankung, die unabhängig von Wetter und Jahreszeit bestehen bleibt.
  • Dokumentieren Sie Ihre Stimmung und Ihren Tagesablauf. Ein Stimmungstagebuch hilft, Auslöser und Verstärker sichtbar zu machen (z. B. mangelnde Pausen, unregelmäßiger Schlaf, soziale Zurückgezogenheit). Studien belegen, dass Selbstmonitoring ein erster Schritt zur Verbesserung ist (Lam et al., 2020).
  • Suchen Sie sich professionelle Unterstützung. Eine psychotherapeutische Begleitung bietet die Möglichkeit, die eigene Situation unter fachkundiger Anleitung zu klären und individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Ich lade Sie ein, den ersten Schritt zu wagen und sich an mich zu wenden. In meiner Praxis in der Hafencity finden Sie einen ruhigen, vertraulichen Rahmen – egal, ob per Online- oder Präsenztermin. Gemeinsam gehen wir Ihren Ursachen auf den Grund und erarbeiten Strategien, damit Ihre Stimmung wieder mit Ihrem Inneren ins Einklang kommt, selbst wenn die Sonne scheint.

Forbes Health (2024). Summer Depression: Nearly 50 % Experience Symptoms in Warmer Months. forbes.com

Scientific American (2024). Summertime Sadness Could Be a Type of Seasonal Affective Disorder. scientificamerican.com

MITCHELL, D., et al. (2023). Hitze und psychische Gesundheit – ein Überblick. Journal of Environmental Psychology, 78(3), 102–112.

CDC (2024). Depression Prevalence in Adults Age 12 and Older (Aug 2021 – Aug 2023). cdc.gov

Hadad, A., Juck, A., & Watson, L. (2019). The Overlooked Side of Seasonal Affective Disorder: A Qualitative Analysis of Summer Depression. Psychology and Psychotherapy, 92(4), 450–468.

Holt-Lunstad, J., Smith, T. B., & Layton, J. B. (2015). Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review. PLOS Medicine, 7(7), e1000316.

Hofmann, S. G., Asnaani, A., Vonk, I. J. J., Sawyer, A. T., & Fang, A. (2012). The Efficacy of Cognitive Behavioral Therapy: A Review of Meta-analyses. Cognitive Therapy and Research, 36(5), 427–440.

Fjorback, L. O., Arendt, M., Ørnbøl, E., Fink, P., & Walach, H. (2011). Mindfulness-Based Stress Reduction and Mindfulness-Based Cognitive Therapy – A Systematic Review of Randomized Controlled Trials of Mindfulness Interventions in People with Somatic Diseases. Journal of Psychosomatic Research, 71(1), 45–56.

Neff, K. (2003). Self-Compassion: An Alternative Conceptualization of a Healthy Attitude Toward Oneself. Self and Identity, 2(2), 85–101.

Lam, R. W., Levitan, R. D., & Shiah, I. S. (2020). Depression und Chronobiologie: Tagesrhythmus und Stimmung. Canadian Journal of Psychiatry, 65(1), 3–14.

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