
Das stille Leiden der Funktionierenden - Wenn Stärke zur Maske wird.
Man sieht es ihnen nicht an: Sie sind zuverlässig, freundlich, hilfsbereit. Sie haben ihr Leben im Griff, erfüllen Erwartungen, sind da, wenn andere sie brauchen. Sie lächeln, auch wenn sie müde sind. Sie hören zu, obwohl sie selbst kaum mehr Kraft haben. Und sie sagen: „Es geht schon“, auch wenn längst nichts mehr geht.
Nach außen scheint alles stabil. Arbeit, Beziehungen, Alltag. Alles funktioniert.
Doch innerlich hat sich etwas verändert. Die Gedanken kreisen, der Körper ist angespannt, die Freude ist leiser geworden. Nächte sind unruhig, Erholung gelingt kaum noch.
Es ist, als wäre das Leben in Bewegung, aber man selbst darin starr geworden.
Viele spüren, dass etwas nicht stimmt, können es aber kaum benennen.
Es ist keine klassische Depression, keine dramatische Krise. Es ist dieses stille, kaum sichtbare Leiden: das Gefühl, zu funktionieren, statt zu leben.
Dieses „Funktionieren“ sieht aus wie Stärke. In Wahrheit ist es oft eine über Jahre gelernte Überlebensstrategie. Sie schützt, aber sie entfremdet.
Denn wer zu lange funktioniert, verliert irgendwann das Gespür dafür, was er wirklich braucht.
Viele lernen früh, dass Anpassung Sicherheit bedeutet.„Sei brav“, „sei stark“, „mach keinen Ärger“ – Botschaften, die sich tief ins Nervensystem einprägen. Wer spürt, dass Liebe und Anerkennung an Leistung oder Anpassung geknüpft sind, entwickelt ein feines Radar dafür, was andere erwarten und blendet eigene Bedürfnisse zunehmend aus.
Im Erwachsenenleben wird dieses Muster oft belohnt: Engagement, Belastbarkeit, Selbstkontrolle. Doch was nach außen nach Stabilität aussieht, ist innerlich häufig Spannung. Das Nervensystem bleibt im Dauer-Funktionsmodus , eine Art chronische Alarmbereitschaft, die Erschöpfung im Hintergrund erzeugt.
Studien zeigen: Rund 60 % der berufstätigen Deutschen geben an, regelmäßig das Gefühl zu haben, „nur noch zu funktionieren“ (TK-Stressstudie 2024). Bei den 30- bis 49-Jährigen, der Lebensphase maximaler Mehrfachbelastung, sind es sogar fast 70 %. Gleichzeitig berichten mehr als die Hälfte der Befragten, sie hätten Schwierigkeiten, abzuschalten oder emotionale Erschöpfung rechtzeitig zu erkennen.
Dazu kommt der gesellschaftliche Kontext: Leistung ist Währung, Schwäche ein Makel. Wer erschöpft ist, sucht die Schuld meist bei sich selbst. Also wird weitergemacht, nur noch etwas kontrollierter, strukturierter, perfekter.
Ein weiterer Grund, warum viele Menschen funktionieren, liegt in der tiefen Angst, die Kontrolle zu verlieren. Kontrolle vermittelt Sicherheit. Wer in einem Umfeld aufgewachsen ist, in dem Stimmungen wechselhaft oder Grenzen unklar waren, hat oft gelernt: Nur wer alles im Griff behält, bleibt sicher. Dieses innere Programm läuft weiter, auch wenn es längst nicht mehr schützt, sondern erschöpft.
Und auch innere Überzeugungen leisten ihren dysfunktionalen Beitrag. Gedanken wie „Ich darf keine Schwäche zeigen“ oder „Wenn ich es nicht mache, macht es keiner“ treiben an, selbst dann, wenn der Körper längst nach Pause ruft. Solche Glaubenssätze wirken wie unsichtbare Regler, die das Tempo hochhalten, auch wenn längst kein Ziel mehr sichtbar ist.
Chronischer Stress verändert die Reizverarbeitung. Das Gehirn schaltet in ein Muster ständiger Alarmbereitschaft. Ruhe wird dann unbewusst als Bedrohung interpretiert. Das erklärt, warum viele in Pausen innere Unruhe empfinden.
Menschen, die „funktionieren“, erkennen sich selten in klassischen Burnout- oder Depressionsbildern wieder. Sie sind zu sehr in Bewegung, zu sehr in Verantwortung. Ihr Schutzmechanismus ist Aktivität.
Laut DAK-Gesundheitsreport 2024 ist die Zahl der Arbeitsausfälle durch psychische Erkrankungen in den letzten zehn Jahren um 48 % gestiegen. Besonders häufig: Erschöpfungsdepressionen und Anpassungsstörungen. Krankheitsbilder, die oft lange Zeit unbemerkt bleiben, weil Betroffene äußerlich „noch funktionieren“. Typische Anzeichen sind:
Das Problem: Die Maske funktioniert auch gegenüber sich selbst. Emotionen werden nicht mehr gespürt, sondern gemanagt. Die innere Stimme, die sagt „mir ist das zu viel“, wird übertönt vom nächsten To-do.
Mit der Zeit entsteht eine leise Entfremdung vom eigenen Erleben. Beziehungen werden anstrengender, Nähe fühlt sich überfordernd an, weil sie Authentizität verlangt. Freude wird seltener, weil sie nicht planbar ist. Der Körper zieht irgendwann die Reißleine: Schlaflosigkeit, Infektanfälligkeit, chronische Schmerzen.
Laut Robert-Koch-Institut (RKI, Gesundheitsbericht 2023) erlebt etwa jede vierte Frau und jeder sechste Mann in Deutschland im Laufe des Lebens eine depressive Episode, oft nach Jahren der Überlastung oder des inneren „Funktionierens“.
Und psychisch?Viele berichten von innerer Leere. Nicht unbedingt Traurigkeit , eher das Fehlen von Lebendigkeit. Ein stilles, unterschwelliges „nichts mehr richtig fühlen können“.
Es ist der Preis einer jahrelangen Übersteuerung des Nervensystems und einer zu perfekten Selbstkontrolle.
Eine meiner Patientinnen, Mitte dreißig, ist erfolgreich im Beruf und beliebt im Freundeskreis. Niemand würde vermuten, dass sie abends oft erschöpft auf dem Sofa sitzt und sich innerlich leer fühlt.
Sie sagt: „Ich funktioniere einfach. Ich lächle, ich arbeite, ich mache Sport, aber ich fühle nichts mehr richtig.“
Im Verlauf der Therapie wurde deutlich, wie früh sie gelernt hatte, stark zu sein. Sie wollte nie zur Last fallen, immer Leistung bringen, immer Kontrolle behalten.
Dieses Muster hatte sie weit gebracht,beruflich und sozial. Aber innerlich war es still geworden.
Für sie begann Heilung in dem Moment, in dem sie nicht mehr versuchte, besser zu funktionieren. Sie erlaubte sich, zu fühlen. Zuerst kam Erschöpfung. Dann Unsicherheit. Und schließlich etwas, das lange keinen Platz hatte: echtes Erleben!
Heilung beginnt meist nicht mit großen Schritten, sondern mit Erlaubnis: Der Erlaubnis, nicht immer zu funktionieren. Der Erlaubnis, Pausen zuzulassen, Grenzen zu setzen, Hilfe anzunehmen.
Psychotherapeutisch bedeutet das: Den Funktionsmodus zu verstehen, statt ihn zu verurteilen.
Er war einmal notwendig. Aber er ist nicht mehr zeitgemäß.
In der Arbeit mit Patient:innen und Klient:innen geht es darum, emotionale Wahrnehmung wieder zu aktivieren, alte Glaubenssätze („ich muss stark sein“) zu überprüfen und Körperempfindungen als Signale statt als Störung zu begreifen.
Erholung ist kein Luxus. Sie ist Voraussetzung dafür, dass das Leben wieder spürbar wird.Das bestätigen auch neurobiologische Studien: Schon 20 Minuten bewusster Entlastung pro Tag (z. B. über Atemübungen oder achtsame Bewegung) senken messbar die Cortisolspiegel und verbessern Emotionsregulation und Schlafqualität (Hölzel et al., Harvard 2023).
Viele Menschen fürchten, dass das Innehalten sie schwächer macht oder weniger erfolgreich. Doch das Gegenteil ist der Fall. Studien aus der Stress- und Neuroforschung zeigen, dass chronischer Funktionsdruck das präfrontale Cortex-Netzwerk, also genau die Hirnareale, die für Konzentration, Kreativität und Entscheidungsfähigkeit zuständig sind , überlastet und in ihrer Leistungsfähigkeit hemmt.
Erst in Phasen echter Regeneration aktiviert sich wieder das sogenannte Default Mode Network , der Teil des Gehirns, der für Integration, Sinn und Problemlösung zuständig ist. Kurz gesagt: Wer Pausen macht, wird klarer, kreativer und belastbarer.
Eine Studie der Stanford University (Oppezzo & Schwartz, 2014) zeigte, dass bereits ein kurzer Spaziergang die kreative Ideenproduktion um rund 60 % steigern kann. Ebenso belegen , wie oben bereits angeschnitten, Langzeitdaten der DAK und der TK, dass Menschen mit regelmäßigem Ausgleich weniger Krankheitstage, schnellere Erholung und höhere berufliche Zufriedenheit aufweisen.
Das Überdenken des „Funktionierens“ bedeutet also nicht, weniger zu leisten , sondern intelligenter mit den eigenen Ressourcen umzugehen. Wahre Stärke zeigt sich darin, das Tempo bewusst zu variieren , nicht darin, es dauerhaft zu halten.
Echte Stärke zeigt sich also nicht im Aushalten, sondern im Hinsehen. In der Bereitschaft, die eigene Verletzlichkeit zuzulassen, ohne sich darin zu verlieren. In der Entscheidung, ehrlich zu sich zu sein, auch wenn das bedeutet, Tempo rauszunehmen.
Denn Stärke ist kein Dauerzustand. Sie entsteht im Wechsel zwischen Spannung und Entlastung, zwischen Tun und Fühlen, zwischen Außen und Innen. Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis: Wer lernt, nicht mehr nur zu funktionieren, beginnt endlich, zu leben.
Vielleicht erkennen Sie sich in diesen Zeilen wieder.Vielleicht sind Sie jemand, der vieles im Griff hat und sich trotzdem manchmal leer fühlt.
In meiner Praxis in der Hamburger HafenCity begleite ich Menschen genau an diesem Punkt: Wenn das alte Funktionieren nicht mehr trägt, aber der neue Weg noch unklar ist. Dort entsteht der Raum, in dem Sie wieder lernen dürfen, echt zu sein. Mit sich und mit anderen.
Erfahren Sie hier mehr über meine Arbeitsweise oder nehmen Sie direkt Kontakt auf, wenn Sie sich angesprochen fühlen.