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Zwischen Swipe und Sehnsucht – Dating in der heutigen Zeit aus psychotherapeutischer Sicht

Zwischen Swipe und Sehnsucht – Dating in der heutigen Zeit aus psychotherapeutischer Sicht

Dating hat sich in den letzten zehn Jahren radikal verändert. Was früher auf Partys, im Café oder im Freundeskreis begann, startet heute oft mit einem Wisch nach rechts. Während Dating-Apps scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten bieten, erleben viele Menschen – darunter auch meine Klient:innen in der Hafencity-Praxis – zunehmende Orientierungslosigkeit, Selbstzweifel und emotionale Erschöpfung. Als Psychotherapeutin mit Schwerpunkt auf kognitiver Verhaltenstherapie sehe ich immer wieder, wie sich moderne Beziehungsanbahnung auf das psychische Wohlbefinden auswirkt – positiv wie negativ.

In meiner Praxis in der Hamburger Hafencity – wo ich Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten begleite, vom beruflich stark Eingebundenen bis zur alleinerziehenden Mutter oder dem frisch getrennten Mittvierziger – zeigt sich immer wieder: Die Art, wie wir heute daten, sagt viel über unsere Beziehung zu uns selbst aus.

1. Die Illusion der Auswahl – zu viel des Guten?

Moderne Dating-Plattformen funktionieren nach dem Prinzip der ständigen Verfügbarkeit. Wer heute datet, hat theoretisch Zugang zu Hunderten potenziellen Partner:innen – jederzeit, überall. Doch die psychologische Forschung zeigt: Eine zu große Auswahl kann Entscheidungsprozesse lähmen. Der sogenannte choice overload führt dazu, dass wir uns schwerer festlegen, schneller Zweifel entwickeln und Beziehungen häufig gar nicht erst eine echte Chance geben.

Zu viele Optionen führen oft nicht zu besseren Entscheidungen, sondern zu mehr Unsicherheit und einem ständigen Gefühl, etwas zu verpassen (FOMO).

Ich höre in der Praxis häufig Sätze wie: „Irgendwie weiß ich gar nicht mehr, was ich eigentlich suche.“ Oder: „Ich fange etwas an – aber sobald es verbindlich wird, zweifle ich.“ Hier lohnt es sich, innezuhalten: Geht es wirklich um das Gegenüber – oder um eine tiefere Angst, sich festzulegen oder verletzt zu werden?

2. Das digitale Ich vs. das echte Ich

Besonders im Coaching-Bereich erlebe ich, wie sehr das „Dating-Selbst“ sich vom realen Selbst unterscheiden kann. Das eigene Profil ist oft eine kuratierte Version, in der Schwächen, Unsicherheiten und Tiefe kaum Platz haben. Gleichzeitig wird Authentizität erwartet – ein paradoxes Spiel.

Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, schildern mir häufig die Angst vor Verletzlichkeit: Wer bin ich hinter dem Erfolg, wenn ich wirklich gesehen werde? Diese Frage stellt sich im Dating-Kontext besonders intensiv – und kann zu Rückzug, Perfektionismus oder innerer Leere führen.

3. Bindungsangst 2.0 – Nähe in einer unverbindlichen Welt

Die Verhaltenstherapie kennt das Konzept der sicheren Bindung als zentrale Ressource für psychisches Wohlbefinden. Doch moderne Dating-Kultur ist oft geprägt von Ghosting, Breadcrumbing und Benching – Begriffe, die eine neue Sprache für alte Ängste liefern: Angst vor Nähe, Angst vor Ablehnung, Angst vor dem Alleinsein.

In der therapeutischen Arbeit betrachte ich diese Phänomene nicht nur als „Datingprobleme“, sondern als Spiegel tiefer liegender Beziehungsmuster bzw. als Ausdruck von Bindungserfahrungen, die oft in der Kindheit geprägt wurden. Die gute Nachricht: Diese Muster sind veränderbar – wenn wir beginnen, sie bewusst wahrzunehmen.

4. Selbstwert, Einsamkeit und die Suche nach Bedeutung

Viele Menschen, die zu mir kommen – ob Ende 20 oder Mitte 50 – erzählen von einer Erschöpfung durch das ständige Daten. Die ständige Anspannung, jemandem gefallen zu wollen, das Enttäuschtwerden, das Gefühl von Austauschbarkeit – all das kann aufs Gemüt schlagen.

Dabei zeigt sich immer wieder: Hinter der Dating-Müdigkeit steckt oft ein tiefer Wunsch nach echter Verbindung. Nach gesehen werden, nach Sicherheit, nach Liebe. Und dieser Wunsch ist menschlich – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Lebensstil.

5. Dating als Spiegel innerer Arbeit – eine Einladung zur Selbstreflexion

Aus psychotherapeutischer Perspektive ist Dating mehr als die Suche nach dem passenden Gegenüber – es ist eine Bühne, auf der sich Beziehungsmuster, Bedürfnisse und Verletzungen zeigen. Eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Mustern, Grenzen und Wünschen ist daher zentral.

Ich ermutige meine Klient:innen, Dating nicht als Prüfung zu sehen, sondern als Lernfeld. Was lerne ich über mich? Welche alten Themen zeigen sich? Wo bin ich zu schnell – oder zu vorsichtig? Und wie kann ich bewusst neue, gesunde Erfahrungen machen?

Fazit: Bewusst daten – statt nur wischen

Dating in der heutigen Zeit ist herausfordernd – aber auch eine Einladung zur Selbstreflexion. Es fordert uns, bewusster mit uns selbst und anderen in Beziehung zu treten. Wer bereit ist, hinter die Kulissen von Profilbildern und Smalltalk zu blicken, findet nicht nur potenzielle Partner:innen, sondern auch tiefe Einblicke in sich selbst und zu innerem Wachstum.Denn am Ende geht es nicht um den perfekten Match – sondern um echte Verbindung. Mit anderen. Und mit sich selbst.

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