ADHS & ADS im Erwachsenenalter: Zwischen Realität, Modediagnose und Selbstmedikation


By: Julia Benner
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ADHS & ADS im Erwachsenenalter: Zwischen Realität, Modediagnose und Selbstmedikation
Lange Zeit galt Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als eine Störung, die ausschließlich Kinder betrifft. Doch inzwischen zeigt sich immer deutlicher: ADHS verschwindet nicht mit dem Erwachsenwerden – es verändert lediglich sein Gesicht. Zwischen wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit, therapeutischer Relevanz und kontroverser Debatte über Modediagnosen stehen Betroffene häufig im Spannungsfeld von Selbstzweifeln, Selbstmedikation und gesellschaftlichen Erwartungen.
Was ist ADHS im Erwachsenenalter?
ADHS – in Deutschland auch als ADS bekannt, wenn die Hyperaktivität weniger im Vordergrund steht – ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung, die durch Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und (gelegentlich) Hyperaktivität gekennzeichnet ist. Im Erwachsenenalter äußert sich ADHS häufig subtiler: statt zappeligem Verhalten dominieren innere Unruhe, Organisationsprobleme, emotionale Dysregulation und ein hohes Maß an Prokrastination.
Laut der deutschen S3-Leitlinie zur ADHS bei Erwachsenen (DGPPN, 2018) leiden etwa 2,5 bis 4 % der Erwachsenen an ADHS – Tendenz steigend, auch durch bessere Diagnostik.
Späte Diagnose: Ein zweischneidiges Schwert
Viele Erwachsene erhalten die Diagnose erst im Rahmen anderer psychischer Behandlungen – häufig spät, nach einem langen Leidensweg. Der Leidensdruck ist dann oft groß: zerbrochene Beziehungen, berufliche Schwierigkeiten oder das Gefühl, „ständig anders“ zu sein, begleiten die Betroffenen häufig seit der Kindheit.
Eine Studie von Kooij et al. (2010) zeigt, dass bei bis zu 80 % der Erwachsenen mit ADHS mindestens eine komorbide Störung vorliegt – vor allem Depressionen, Angststörungen, Substanzmissbrauch oder Persönlichkeitsstörungen. Diese Überschneidungen erschweren die Diagnostik erheblich, führen aber auch zu einem erhöhten Risiko der Selbstmedikation, etwa durch Alkohol, Cannabis oder Beruhigungsmittel.
Selbstmedikation als Ausdruck innerer Not
Erwachsene mit unbehandeltem ADHS berichten häufig, dass der Konsum von Substanzen ihnen kurzfristig hilft, ihre Gedanken zu fokussieren, innere Unruhe zu dämpfen oder Emotionen zu regulieren. Forscher wie Wilens et al. (2011) sprechen hier von einem „Selbstmedikationsverhalten zur Emotions- und Impulskontrolle“, das langfristig jedoch das Risiko für substanzinduzierte Störungen massiv erhöht.
ADHS als „Modediagnose“? Eine kritische Perspektive
Mit der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit – auch durch Social Media, Podcasts und Influencer – wächst die Zahl der Menschen, die sich mit ADHS identifizieren. Kritiker warnen jedoch vor einer „pathologisierenden Selbstdiagnosekultur“, in der Alltagsschwächen als Symptome gedeutet werden.
Der Psychiater Dr. Peter Parzer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim warnt: „ADHS ist keine Modeerscheinung, aber es besteht das Risiko der Überdiagnostik, insbesondere wenn Symptome ohne fundierte Anamnese interpretiert werden.“ Diese Perspektive ist auch Gegenstand einer Debatte innerhalb der Fachwelt, etwa in einem Beitrag der Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie (ZPPP, 2021), der zu mehr diagnostischer Zurückhaltung mahnt.
Therapieansätze: Mehr als nur Medikamente
Die Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter basiert auf einem multimodalen Ansatz, der Psychoedukation, Verhaltenstherapie und ggf. medikamentöse Unterstützung kombiniert. Medikamente wie Methylphenidat oder Lisdexamfetamin zeigen hohe Effektstärken (Biederman & Faraone, 2006), müssen jedoch individuell abgestimmt und eng begleitet werden.
In meiner Praxis Redemoment legen wir großen Wert darauf, neben einer differenzierten Diagnostik auch Stärkung der Selbstwirksamkeit, Aufbau von Struktur und Bewältigungsstrategien zu fördern. Für viele Betroffene ist es ein befreiender Moment, sich und ihre Muster endlich zu verstehen – aber auch ein herausfordernder Weg, neue Verhaltensweisen zu etablieren.
Fazit: Zwischen Stigma und Chance
ADHS im Erwachsenenalter ist keine „Ausrede“ für Faulheit oder Versagen. Es ist eine ernstzunehmende, oft belastende Störung – aber auch eine Erklärung, die helfen kann, vergangene Schwierigkeiten einzuordnen und neue Wege zu gehen.
Wichtig ist: Nicht jedes Konzentrationsproblem ist ADHS – aber wenn eine Vielzahl an Symptomen über Jahre das Leben beeinträchtigt, lohnt sich eine professionelle Abklärung. Nur so lässt sich verhindern, dass Betroffene in Spiralen aus Selbstvorwürfen, Fehldiagnosen oder Selbstmedikation geraten.
In meiner Privatpraxis Redemoment liegt unser therapeutischer Schwerpunkt nicht auf der Diagnostik und Behandlung von ADHS, sondern vielmehr auf dem Erlernen alltagstauglicher Verhaltensstrategien, der Förderung emotionaler Selbstregulation und dem Aufbau innerer Stabilität. Bei einem konkreten Verdacht auf ADHS arbeiten wir eng mit spezialisierten Fachpraxen zusammen und verweisen bei Bedarf vertrauensvoll weiter – damit unsere Klient*innen bestmöglich begleitet werden.